Eigentlich lichte ich mein eigenes Licht, wenn ich mein Eigenlicht lichte …
Wie aus eigentlich Eigenlicht wurde
Essay von Markus Stettner-Ruff
„Eigentlich ist jetzt Mittagsschlafenszeit. Aber das gemeinsame Austauschen des Sandes
unseres Sandkastens war für die Kinder so aufregend, dass sie heute statt dessen
zusammen mit dem Sandmann im neuen Sand spielen dürfen.“
Immer wieder hörte ich in den Tagen meines Besuches auf dem „Nyponkulle“, dem
Hagebuttenhügel, bei Käthy und Holger in Järna im Sommer 2020 dieses Wort
„eigentlich“. Es fühlte sich warm und beweglich, ja eigentlich geschmeidig an.
Als sie mich am Ende meiner Hagaelund-Stor-Tage baten einen Namen für ihren
Kindergartenbauernhof zu finden, lag mir immer wieder dieses Wort „eigentlich“ auf der
der Zunge. Aus meiner Seele, wo es sich eingenistet hatte, wurde es immer wieder hoch
gespült. Nach langem Abschmecken verwandelte es sich sanft in „Eigenlicht“.
Eigenlicht – als pädagogische Grundgeste so zu wirken, dass jedes Kind und jeder
Erwachsene im gemeinsamen Entwicklungsspiel sein Eigenlicht finden und entzünden
kann, in seinem Tempo und auf seine ihm eigene Weise.
Ich erlebe keinerlei Effektivitätsdenken bei Käty und Holger im Sinne von: Das und das
muss so und so bis dann und dann erreicht werden! Das „eigentliche“ Ziel ist es, im
gemeinsamen Tun von Kindern und Erwachsenen sich im hier und jetzt unmittelbar zu
begegnen. Die jeweils passenden Arbeitsformen ergeben sich dabei „wie von alleine“.
Beim gemeinsamen Austauschen des Sandes der Kinder und Erwachsenen entsteht ein
kreatives Chaos, das wie aus Zauberhand zum Ergebnis führt.
Nyponkulle – eine Atemschaukel auf dem Hagebuttenhügel, ein Ort, an dem Kinder
Wesens gemäß atmen, schlafen und spielen“, so meine Metapher nach dem Abschmecken
von „eigentlich“.
„Eigentlich hat der Fritz recht, aber wie sollen wir die Zustände ändern in dieser Welt. Und
ich als Einzelne kann sowieso nichts tun.“ Einen Sommer später höre ich diese Sätze von
„eigentlich“ in vielen Varianten, auf unserer T amie h-BANKbank-Tour von Gammesfeld
nach Crailsheim. Drei Tage ziehen wir mit unserer BANKbank auf dem von uns extra
angefertigten Handwagen über die Dörfer der Hohenloher Ebene und präsentieren sie den
Menschen auf ihren Kirch- und Marktplätzen. Am Ziel der Tour im Fliegerhorstareal
Crailsheim auf dem Wall weihen wir sie zusammen mit ihrem Freund, der
PropellerSkulptur von Paul Diestel, feierlich ein. Geschreinert aus dem Eichenholz seines
Waldes widmen wir die erste BANKbank Friedrich Vogt, dem Dorfrebellen, letzten Jünger
Raiffeisens und legendärer Leiter der kleinsten Bank Deutschlands. Bis heute ist sie ein
Einmannbetrieb. Der „Held“ des preisgekrönten Dokumentarfilms über die Gammesfelder
Raiffeisenbank, „Schotter wie Heu“ hatte in Zeiten der großen Finanzkrise fast Star-Status
und wurde in alle großen Talk-Shows eingeladen.
Fast alle Hohenloher*innen kennen und mögen „den Fritz“, wenn wir mit ihnen ins
Gespräch kommen. Sie sind eher wortkarg, die Hohenloher*innen. Wägen die wenigen
Worte, die ihnen über die Lippen kommen, lange und gut ab. Was raus darf sitzt und hat
Bestand.
Wie die Sitzbank auf dem Wall in Crailsheim, die jeden Freitag von 14.00 – 18.00 Uhr zur
BANKbank wird. Dort können sich Menschen treffen, die Geld besitzen und es denen die
welches privat oder für die Umsetzung einer Idee brauchen, schenken oder zinsfrei
verleihen.
Dieses Hohenloher „eigentlich“ klingt anders als das aus Hagelund Stor. Es drückt eine
gefühlte und gelebte Ohnmacht dem kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystem
gegenüber aus und der daraus resultierenden Art unseres wenig geschwisterlichen, die
Natur und unsere Lebensgrundlagen zerstörenden westlichen Lebens aus. Und sie ist eine
Metapher für die Ausflüchte, die Ausreden, die Entschuldigungen, die Rechtfertigungen für
das eigene unaufrichtige, als inkonsequent und unehrlich empfundene Denken und
Handeln. Wir alle kennen diese vermeintliche Klage: Als Einzelne können wir ob der
Allmacht des Systems nichts tun.
Ich muss an Friedrich Schiller und seine „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen“
denken. Meine zweite Bibel. Ohne das Spiel mit Stoff und Form, mit Sinnlichkeit und
Vernunft, mit dem „Wilden“ und dem „Barbar“ finden wir keinen Zugang zu unserem
„Eigenlicht“. Wenn wir dieses Spiel von Polarität und Steigerung suchen und ernsthaft
spielen, dann erst werden wir ganz Mensch. Denn: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller
Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ . Goethe
spricht von Schönheit, die entsteht, wenn wir mit Güte und Wahrheit spielen.
Wenn wir durch unser Spiel unser Eigenlicht suchen, finden und entzünden, spüren wir
Licht, Wärme und Liebe. Das, was wir im Innen und Außen, im Großen und Kleinen mehr
als je zuvor in diesen Zeiten brauchen.
Ein Trost: „Fräulein Eigenlicht“, über deren „Roten Faden“ ich im dunklen Dschungel des
Internets stolpere, ruft mir in einem ihrer YouTube Gedichtfilme zu: „Was wären wir ohne
das, was uns fehlt.“
Lasst uns zusammen auf den Weg gehen und unser Eigenlicht suchen. Wo wir es finden
und entzünden, da ist T amie h.
MSR 16.01.2022